“Reinventing Organizations“ – oder wie schön die Arbeitswelt sein könnte (Teil 2)

Teil 2 von 2 _

Jeff Hatch, dessen Hände noch immer von der Kohle geschwärzt sind, die er gerade von einem Lastkahn abgeladen hat, nimmt den Hörer ab und ruft seinen Lieblingsmakler an. „Welchen Zinssatz kannst du mir für 10 Millionen Dollar mit einer Laufzeit von 30 Tagen geben?“, fragt er den Makler, der mit Staatsanleihen handelt.

Im letzten Blogbeitrag (Teil 1) habe ich über einige für mich wichtige Aspekte des Buchs «Reinventing Organizations» geschrieben und erläutert, warum ich es enorm interessant, lehrreich und wichtig finde. In diesem zweiten Teil gehe ich auf Beispiele aus der Praxis ein, und ich möchte euch einige konkrete Ideen für den Berufsalltag mitgeben. 

Die kurze Einleitung über Jeff Hatch steht für eines von vielen Beispielen für Selbstführung, welches zeigt, dass im Unternehmen AES alle Mitarbeitenden wichtige Entscheidungen selbständig treffen. AES ist nicht irgendein Unternehmen. Es hatte zu diesem Zeitpunkt 40’000 Mitarbeitende und galt als weltweit grösstes Unternehmen für Energieproduktion und -verteilung. Hierarchisch geführte System sind mit ihrer Pyramidenstruktur schnell nicht mehr (richtig) funktionsfähig, wenn sie hoher Komplexität ausgesetzt sind. Die wenigen Leute an der Spitze – egal wie klug sie sind – haben nicht mehr die Kapazität, die Komplexität zu erfassen und damit umzugehen. Abgesehen davon sind sie meist weit weg vom Tagesgeschäft, so dass sie schon deswegen nicht die besten Entscheidungen treffen. Selbstführung löst diese Probleme. Selbstführung ist eines der Merkmale evolutionärer Organisationen.

Ein weiteres Merkmal ist die Suche nach Ganzheit. Enorme Energie wird freigesetzt, wenn wir am Arbeitsplatz ganz wir selbst sein können. Dazu gehört auch die Schaffung sicherer Arbeitsumgebungen, dank Google oft gehört unter dem Begriff «Psychologische Sicherheit». Google hat in ihrer Studie «Project Aristotle» untersucht, was das Geheimnis effektiver Teams ist und psychologische Sicherheit als einen wesentlichen von fünf Aspekten identifiziert.

Der dritte und letzte Punkt den evolutionäre Organisationen auszeichnet, ist das Hören auf den evolutionären Sinn der eigenen Organisation, was unter anderem bedeutet, dass sich eine Organisation fortwährend an den übergeordneten «sinngebenden Zielen» ausrichtet. Sinn bedeutet auch gesellschaftliche Verantwortung. Ein aktuelles Beispiel für sinn-orientiertes Handeln und echte gesellschaftliche Verantwortung ist Patagonia, ein weltweit tätiger Hersteller von Outdoor-Bekleidung. Mit der Übertragung seines drei Milliarden-Euro-Unternehmens in eine gemeinnützige Stiftung hat der Firmengründer Yvon Chouinard eindrücklich bewiesen, wie ernst es ihm ist mit dem Kampf gegen den Klimawandel. 

Wie bringe ich nun also Selbstführung, Ganzheit und evolutionären Sinn in eine Unternehmung? Hier unterscheidet Frederic Laloux zwischen der Gründung einer evolutionären Organisation oder der Veränderung bestehender Organisationen und horizontaler Transformation.

Bei Gründung oder Veränderung bestehender Organisationen nennt er zwei Voraussetzungen. Erstens muss das leitende Management (Gründer, Geschäftsführer) eine Weltsicht und psychologische Entwicklung integriert haben, die mit einer integralen, evolutionären Bewusstseinsstufe übereinstimmt. Zweitens müssen auch die Eigentümer diese Weltsicht verstehen und leben. Die Erfahrung zeigt, dass sich der Versuch nicht lohnt, wenn diese beiden Aspekte nicht gewährleistet sind – ebenso wenig wie die evolutionäre Praktiken nur in einem Teil einer Organisation anzuwenden. Sind diese beiden Bedingungen nicht erfüllt, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit bei der ersten Krise wieder auf „traditionelle“ Organisationsstrukturen umgestellt. Dies hat auch AES erlebt. Als 2001 die Dotcom-Blase platzte und die Terroranschläge vom 11. September die Aktienkurse noch weiter in die Tiefe riss, wurden dort (sogar nach 20 Jahren Selbstführung), durch den Vorstand und gegen den Willen des Geschäftsführer, wieder „altbewährte“ Managementpraktiken eingeführt.

Aber! – und jetzt wird es für die meisten von euch spannend – auch eine horizontale Transformation ist möglich. Damit ist gemeint, die bestehende Organisationsform beizubehalten, aber die Ansätze und Ideen zu verwenden um eine gesunde, lebendige und innovative Umgebung zu schaffen. Dies könnte beispielsweise bedeuten:

  • Vorbildfunktion der Führung, bedeutet Haltung und Taten der Leitung an den Konzepten (im Rahmen des möglichen Spielraums) integraler evolutionärer Praktiken ausrichten
  • Mitarbeitende und/oder Teams bestimmen ihre Ziele selbst, anstatt dass sie von oben vorgegeben werden
  • Mehr Verantwortung und Kompetenzen an Mitarbeitende übertragen, generell oder für spezifische Aufgaben
  • Einführung des Beratungsprozesses für bestimmte Fragestellungen, über die dann nicht mehr der Chef/die Chefin entscheidet
  • Mehr Freiraum und Flexibilität bei der Arbeitsgestaltung (Arbeitszeit, Arbeitsort, Arbeitsweise etc.)
  • Psychologische Sicherheit verbessern, beispielsweise mit dem gezielten Training von Psych Safety
  • Ein vertrauensvolles Umfeld schaffen durch Kommunikation, Authentizität, Ehrlichkeit und Offenheit
  • Herausschaffen des Sinns der eigenen Organisation (oder Abteilung, Teams etc.)
  • Verantwortung für die Gestaltung und Durchführung des Team-Meetings dem Team übertragen

Zum letzten Punkt habe ich etwas aus eigener Erfahrung zu ergänzen. Da ich mit dem Ablauf und Inhalt unseres Team-Meetings unzufrieden war, habe ich dieses gemeinsam mit dem Team umgestaltet. Zusätzlich habe ich die Rollen „Moderation“ und „Meeting-Design“ definiert. Dadurch führen und gestalten die Meetings nun meine Mitarbeitenden und nicht mehr ich. Das funktioniert ganz wunderbar, macht allen Beteiligten mehr Freude und ich kann mich im Meeting ganz auf die Inhalte konzentrieren. Mit diesen einfachen Anpassungen habe ich dem Team mehr Verantwortung und Kompetenzen übertragen und Vertrauen gegeben. Es sind bekanntlich kleine Dinge die Grosses bewirken können.